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http://www.zeit.de/2010/27/Uiguren?page=all
Ein Jahr nach den blutigen Unruhen herrscht in Chinas Westprovinz Ruhe, kein Frieden
Vor einer Moschee in Urumqi, der Hauptstadt der chinesischen Provinz Xinjiang
Schön und friedlich ist das Bild nur auf den ersten Blick: Die riesige Mao-Statue und drum herum die zu uigurischen Weisen tanzenden Mädchen in ihren neonglitzernden Trachten. Friede, Freundschaft, Völkerverständigung soll diese Inszenierung signalisieren. Ein Jahr nach den blutigen Zusammenstößen zwischen den einheimischen Uiguren und zugewanderten Han-Chinesen in der Autonomen Region Xinjiang legt die Zentralregierung Wert auf Harmonie. Nach uigurischen Angaben kamen allein hier in Kashgar etwa hundert Menschen ums Leben.
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Die Spannungen sind immer noch spürbar, gerade jetzt, zum Jahrestag des Konflikts. Auf dem Platz des Volkes rund um die Mao-Statue kommt keine Feierstimmung auf. Als das Spektakel – es gehört zum Rahmenprogramm einer Industriemesse – vorbei ist, verlaufen sich die Zuschauer schnell. Die Uiguren gehen schlafen, der Staat, der von den Han als größte Volksgruppe dominiert wird, bleibt wachsam. Ab Mitternacht läuft eine achtköpfige mit Maschinenpistolen bewaffnete Truppe über den gespenstisch leeren Platz.
Kashgar liegt im äußersten Westen Chinas, fast direkt neben Kirgisistan mit seinen blutigen ethnischen Konflikten. Die Uiguren, die hier die Mehrheit stellen, zählen wie die kirgisischen Konfliktparteien zu den Turkvölkern. Die Stadtregierung aber wird von Han-Chinesen kontrolliert; sie geht in diesen Tagen auf Nummer sicher. Eine Hundertschaft von Soldaten mit Schilden und Schlagstöcken lagert nicht wie sonst in einer Seitenstraße, sondern demonstrativ mitten auf dem Platz. Die muslimischen Uigurinnen in ihren bunten Röcken und ihre dunkelhäutigen Männer mit dem türkischen Aussehen laufen mit stoischem Gleichmut um die Truppe herum. Ihr Glaube ist nicht illegal, öffentliche Gebete aber sind es. Ihre Pässe sollen sie zu Chinesen machen, doch sogar ihre Zeitrechnung betont die Eigenständigkeit. Trotzig leben sie im um zwei Stunden verzögerten Rhythmus der zentralasiatischen Zeitzone, obwohl die chinesische Führung auf Pekingzeit besteht.
In Urumqi, der Provinzhauptstadt, schleichen regelmäßig vergitterte Mannschaftswagen mit Soldaten in Tarnuniform und Stahlhelm durch den Verkehr der 2,7-Millionen-Stadt. Und immer wieder Geschwader von Polizeimotorrädern, deren schwarz gekleidete Fahrer ihre Maschinenpistolen auf den Rücken geschnallt haben. Mit ihren schnellen Fahrzeugen können sie Verdächtige auch in den engen Gassen der Altstadt verfolgen, in der fast nichts mehr an China erinnert.
Es gibt Öl und Gas. Für Peking ist die Provinz noch wichtiger als Tibet
Der Han-Staat ist nervös. Vor einer Woche erst verhaftete die Staatssicherheit eine angebliche Terrorzelle in Westxinjiang, die »viele« terroristische Attacken ausgeführt haben soll, darunter einen Anschlag in Kashgar zum Beginn der Olympischen Spiele im Sommer 2008. Die Verhafteten sollen Mitglieder der Islamischen Bewegung von Ostturkestan sein, einer Gruppe, die 2002 von den Vereinten Nationen auf die Liste der terroristischen Vereinigungen gesetzt wurde, unter anderem, weil sie Verbindungen zu al-Qaida unterhält. »Niemand kann nachprüfen, ob die Verhafteten wirklich die Täter sind oder nur kurz vor dem Jahrestag präsentiert werden, um die wahren Täter zu erschrecken«, sagt ein junger Uigure, der als Anwalt arbeitet und derzeit seinen Namen lieber nicht nennt.
In den Tagen nach dem Aufstand trieben Polizisten nach Augenzeugenberichten die Bewohner ganzer Gassen aus ihren Häusern. Sie trennten junge Männer von ihren Familien und deportierten sie in Lastwagen. »Ihre Familien und wir Nachbarn konnten nichts tun«, sagt eine Augenzeugin, »wir hatten alle Angst, auch weggebracht zu werden.« Bis in den August hinein hielten die Razzien an, oft kam die Polizei in den frühen Morgenstunden. Ein Vater erzählt: »Sie brachen die Tür auf. Sie sagten, dass mein Sohn Nuriddin mit Freunden an den Protesten beteiligt gewesen sei und die Freunde seinen Namen genannt hätten. Sie drehten seinen Arm auf den Rücken und brachten ihn weg.« Seitdem hat man von dem 20-jährigen Nuriddin nichts mehr gehört.
Warum Peking diese ferne Provinz mit solch harter Hand regiert, ist offensichtlich: Xinjiang ist die strategisch wichtigste Provinz Chinas, weit wichtiger noch als Tibet. Sie hat Grenzen mit Russland, der Mongolei, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Pakistan, Afghanistan und Indien. Und in Xinjiang liegen die größten Öl- und Gasvorkommen des Landes. »Weil das so ist, gibt es keine realistische Chance zur Entspannung, solange die Uiguren nicht das tun, was die Chinesen wollen«, sagt der Anwalt.
Dass sie das nicht wollen, ist offensichtlich. Deshalb haben beide Seiten, Uiguren wie Chinesen, Angst. Weniger vor einem neuen Aufstand, das ist recht unwahrscheinlich. Sondern vor neuen terroristischen Anschlägen von Extremisten, die die Lage aller nur verschlimmern würden. Im Alltag finden sich immer wieder zumindest Hinweise auf ein halbwegs einvernehmliches Nebeneinander. Ein Han-Chinese zeigt mir seine Handy-Telefonliste. Turknamen und chinesische Namen wechseln sich ab. Ein Uigure erzählt, wie er schon als Kind bei den Eltern eines Han-Freundes zu Gast war, die extra einen neuen Topf gekauft hatten, damit er nicht Essen aus einem Gefäß essen musste, in dem schon Schweinefleisch gekocht worden war.
Ärger gibt es vor allem dann, wenn Staatsvertreter die Uiguren als Menschen zweiter Klasse behandeln. »Es ist so«, erklärt ein junger, uigurischer Geschäftsmann in Urumqi, »als ob die Eltern zwei Söhne haben und ein Sohn immer die Prügel kriegt, weniger Taschengeld bekommt und immer die alten Sachen des Bruders tragen muss.« Für Uiguren ist es zum Beispiel viel schwieriger, einen Pass zu bekommen, als für Han-Chinesen. Es kann bis zu 40000 Yuan kosten und sehr lange dauern. Und nur wer perfekt chinesisch lesen und schreiben kann und seinen religiösen Bräuchen abschwört, macht in Xinjiang Karriere. Die zentralen Machtpositionen werden ohnehin von Han-Chinesen besetzt. Die Arbeitslosigkeit unter den Uiguren ist höher, ihre Lebenserwartung um ganze zehn Jahre niedriger. Und Peking versucht durch seine Zuwanderungspolitik systematisch, ihren Anteil an der Bevölkerung zu verringern. Noch vor 50 Jahren stellten Han-Chinesen sechs Prozent der Bevölkerung; inzwischen sind es 40 Prozent.
Ist Westchina nicht in Wahrheit Ostturkestan?
Nach den Unruhen hat die Führung in Peking allerdings einen Schrecken bekommen und pumpt nun Geld in die entlegene Region. In Kashgar werden die zum Teil mehr als 400 Jahre alten Moscheen und Grabmäler der Muslime aufwendig saniert. Die Pekinger Zentralregierung hat gar im April den Provinzsekretär ausgewechselt, nachdem sie die erste Arbeitskonferenz seit Gründung der Volksrepublik über Xinjiang abgehalten hatte. Dabei wurde auch beschlossen, dass Kashgar eine »Wirtschaftsentwicklungszone« werden soll, die den Handel mit den Nachbarländern fördern soll. Die Regierung hofft, dass neue wirtschaftliche Impulse dazu beitragen, »die soziale Lage stabiler werden zu lassen«, schreibt die englischsprachige Tageszeitung China Daily. Denn die meisten Aufständischen seien arbeitslose Jugendliche gewesen.
Die Opposition verfolgt diese Politik mit Unbehagen. »Die Investitionen streuen den Menschen nur Sand in die Augen«, sagt ein uigurischer Aktivist. »Die einzige Möglichkeit, der Unterdrückung zu entkommen, ist die Unabhängigkeit. Wenn wir ein Teil Chinas bleiben, wird sich nie etwas ändern. Deshalb kämpfen wir weiter.« Er sitzt in einem Kentucky Fried Chicken mit großen Fenstern. Ein Mann Ende 30, gekleidet in Jeans und T-Shirt, der sein Haar wie die meisten Uiguren kurz geschnitten trägt. Er spricht gut Englisch und trägt nicht weniger als drei Handys bei sich. Was aus Pekinger Sicht eine westliche Provinz ist, das nennt er »Ostturkestan«. Ausführlich erzählt er die Geschichte dieses Landes und erläutert, warum die Unabhängigkeit auch historisch gerechtfertigt sei. Wird er sich Verbündete in Nachbarländern suchen? »Wir kooperieren mit allen, die uns helfen, Ostturkestan zu befreien.«
Das klingt nach Landesverrat; die meisten Uiguren allerdings wollen keine Unabhängigkeit, sie wollen Stabilität und Gerechtigkeit. Beide Seiten, Uiguren und Chinesen, haben die Anschläge und Aufstände satt. »Es hat niemandem geholfen«, sagt der Han-chinesische Geschäftsmann bei einem Abendessen in einer gemischten Runde im Hinterzimmer eines Restaurants mit wunderschönen türkischen Wandfliesen. »Terroristen müssen bekämpft und hart bestraft werden«, sagt einer der Uiguren. Und ein anderer Han-Chinese, der in der Verwaltung arbeitet, ergänzt: »Es kann aber nicht sein, dass die Polizei einfach Leute verschwinden lässt. Das findet hier niemand gut. Es kann einen auch selbst treffen.«
So frei ist dies Land allerdings nicht, dass derlei Meinungen offen geäußert würden. Dies sind Themen für Gespräche bei geschlossener Tür oder in den Nebenzimmern von Restaurantes, und sie verstummen, wenn die Bedienung kommt. Lange hat die Zentralregierung hier das Internet gesperrt und damit beide Volksgruppen gegen sich aufgebracht. Manch einer musste einen Freund in Shanghai anrufen, um sich seine E-Mails vorlesen zu lassen. Wie tief die Wut noch sitzt, zeigt sich abends in einem Klub, als ein junger uigurischer Polizist plötzlich seine Nöte preisgibt. »Ich mag unsere Regierung nicht. Man kann nicht die Wahrheit sagen.« Warum ist er dann Polizist geworden? »Es ist schwierig hier, einen guten Job zu finden.« |
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