"Demokratie kann man nicht essen" 1.
"Demokratie kann man nicht essen" Eine Außenansicht von Qin Hui China, Gastland bei der Frankfurter Buchmesse, kontrolliert Menschen und Medien heute mit neuen Methoden. |
Ein Arbeiter fixiert eine riesige Plexiglasplatte mit chinesischen Schriftzeichen. Die Volksrepublik China ist in diesem Jahr Gastland der Frankfurter Buchmesse. (Foto: dpa) Nachdem die Kommunistische Partei Chinas die Macht übernommen hatte, gab es in der Verfassung einen Paragraphen über "freie Meinungsäußerung". Genau wie in der "stalinistischen Verfassung" der Sowjetunion. Wie es tatsächlich in Ländern wie China oder der Sowjetunion aussah, ist allgemein bekannt - und auch, wie es um die Meinungsfreiheit in China nach der Unterdrückung von 1989 bestellt war. Immerhin wurden die Wirtschaftsreformen nicht gestoppt, diese wurden nach 1992 sogar noch beschleunigt. Bis heute erlaubt China keine privaten Medien, aber wegen des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs müssen sich die staatlichen Medien und Verlage in gewissem Grad nach den Wünschen des Volkes und nicht nur nach denen "da oben" richten. Deswegen kann die Meinungsäußerung nicht mehr so stark wie vor dem Beginn der Reform eingeschränkt werden. Tatsächlich hat die Marktwirtschaft die Mittel vervielfacht, mit denen die Bürger ihren Lebensunterhalt erwirtschaften können. Dies gilt auch für die Literaten, die nicht mehr unbedingt vom "Getreide des Kaisers" leben müssen. Auf einmal gibt es Menschen, die vom Verkauf ihrer Texte leben können. Auch einige Intellektuelle, die aus den offiziellen Organisationen des literarischen Lebens ausgeschlossen wurden, konnten genug Geld verdienen, um in ihrer Freizeit weiterzuschreiben. Einige wenige bekommen sogar von der Privatwirtschaft genügend Unterstützung, um professionell und unabhängig zu schreiben. Zudem hat das Internet der privaten Meinungsäußerung neue Möglichkeiten erschlossen. So führte die Marktwirtschaft auch unter den Bedingungen der Diktatur dazu, dass sich Diskussionen über gesellschaftliche Widersprüche und Probleme nicht mehr vermeiden ließen. Eine Kontrolle der Meinungsäußerung findet zwar nach wie vor statt. Der Freiraum hat sich aber trotz gelegentlicher Rückschläge immer weiter vergrößert. Es gibt öffentliche Diskussionen über Nationalismus und traditionelle Kultur, über Eigentumsrecht und Landrechte, über Globalisierung und Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation. Alles in allem hat es also Fortschritte gegeben. Erstens: Heute bestraft der Staat nur noch sehr selten Autoren. Er unterdrückt lieber die Medien. Zwar gibt es Ausnahmefälle, wie vor knapp einem Jahr die Verhaftung des Dissidenten Liu Xiaobo gezeigt hat - wegen der Petition "Charta 08", in der er und andere ein Ende des Ein-Parteien-Systems verlangten. Aber in der Regel bleiben viele Verfasser "irrgläubiger" Schriften unbehelligt. Überprüft und bestraft werden die Redakteure und Herausgeber. Das geht bis hin zur Schließung einiger Medien und Verlage. Der Grund für diese Vorgehensweise: Das Regime ist der Meinung, dass die Bestrafung von und vor allem die Kritik an Verfassern nur dazu führt, dass diese noch bekannter werden. Wenn aber die Medien gehorchen, dann haben die Verfasser keine Möglichkeit mehr, ihre Meinungen zu veröffentlichen. Zweitens: Der Einzelne kann seine Meinung relativ unbeschwert äußern - aber streng geahndet wird die kollektive Meinungsäußerung besonders solcher Gruppen, die im Verdacht stehen, sich organisieren zu wollen. Die insgesamt 300 Unterschriften unter der "Charta 08" waren es, die zur Verhaftung Liu Xiaobos führten; ein geradezu klassisches Beispiel für das Vorgehen des Regimes. Nationalismus statt Marxismus - "Demokratie kann man nicht essen" 2.
Nationalismus statt Marxismus Im akademischen Bereich ist der Rahmen für die zulässigen Meinungen sehr groß, besonders bei den Wirtschaftswissenschaften. Da ist die westliche Lehre längst Mainstream geworden. Egal wie "rechts" die Ansichten sind, alles kann gesagt werden. Wenn eine Äußerung aber die konkreten Interessen einer einflussreichen Abteilung, Arbeitseinheit oder eines Monopolkonzerns beeinträchtigt, dann können Wirtschaftsberichte oder Kommentare sehr schnell gefährlich werden. Unterdessen wird der Marxismus immer schwächer, der Nationalismus sowie das Propagieren der "traditionellen Kultur" immer stärker. Den "veralteten" westlichen Kapitalismus durch unseren "fortschrittlichen" Sozialismus ersetzen - das beherrschte die staatliche Propaganda vor der Reform. Aber nach dem Ende des Kalten Krieges ist die Regierung hier defensiver geworden. Sie versucht nicht mehr, andere Leute zu "befreien". Nun hat sie vor allem Angst, andere Leute könnten "Aufstände" anzetteln. Der Unterschied zwischen Sozialismus und Kapitalismus wurde schrittweise verwässert, der Unterschied zwischen West und Ost tritt dafür immer deutlicher zu Tage. Früher erklärte die Regierung: "Wir sind demokratischer als der Westen." Jetzt heißt es: "Demokratie kann man nicht essen." Demokratie und alles Universelle (einschließlich einiger Dinge, die die Kommunisten früher sehr zu schätzen wussten) sind alle zu einer aus dem Westen stammenden Bedrohung geworden. Und schließlich: Im Zuge des Wirtschaftsaufschwungs übt der Staat seine Kontrolle nun anders aus. Das Rezept heißt nicht mehr: "Abweichler streng bestrafen", sondern: "Die Mitmacher reich belohnen". In China sind die Gehälter für Intellektuelle meistens nicht sehr hoch. Aber alle Arten von "Preisgeldern", besonders die vom Staat zugeteilten Verwaltungsbeiträge für wissenschaftliche Projekte steigen atemberaubend schnell. Nicht nur, dass das Budget dadurch oft höher liegt als bei vergleichbaren Projekten in entwickelten Ländern. In China lassen sich diese sogenannten Verwaltungs-Gelder viel leichter in persönliches Einkommen umwandeln. Deswegen haben sich mittlerweile nicht nur die ideologischen Gräben zwischen den chinesischen Intellektuellen vertieft - sondern auch die wirtschaftlichen Unterschiede. Staatliche Schwerpunkt-Aufträge zu bekommen, bedeutet oft: mit einem Schlag reich zu werden. Seine eigenen Ansichten bewahren und unabhängig forschen, das hingegen bedeutet meistens Armut. Früher lebten die "ketzerischen Gelehrten" unter großen Gefahren, aber sie konnten einen ausgezeichneten Ruf in ihrer Gesellschaft erlangen. "Lohnschreiber" waren vielleicht mächtig, aber nicht unbedingt reich. Heute sind die Risiken für die "Ketzer" etwas kleiner geworden, aber oft werden sie als Dummköpfe angesehen. Die Gesellschaft lacht über Arme, nicht über die, die sich prostituieren. Die "Lohnschreiber" hingegen haben immer noch Macht und Einfluss - und ihr Reichtum macht sie zu bewunderten Menschen. Die Marktwirtschaft hat China also mehr Meinungsfreiheit gebracht und bedeutet für das unabhängige Denken dennoch eine Belastung. Qin Hui, 56, ist Wirtschaftshistoriker der Tsinghua-Universität Peking. Eine Langfassung erscheint im Band "Wie China debattiert" der Heinrich-Böll-Stiftung. Übersetzung: Wolf Kantelhardt. Foto: oh |